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Die Unberechenbarkeit der Finanzmärkte – wie man Risiken untersucht

Es gibt viele Methoden, mit dem Risiko umzugehen. Auf den Finanzmärkten ist die älteste auch die einfachste: die Fundamentalanalyse. Steigt ein Wertpapier, sucht man den Grund mit Hilfe einer Untersuchung der dahinterstehenden Firma oder der Branche oder Volkswirtschaft im Umfeld. Man prüft genauer und sagt voraus, in welche Richtung das Papier sich entwickeln wird. Das Schlüsselwort heißt hier „wegen“. Der Kurs einer Aktie oder Anleihe ändert sich wegen eines Vorfalls oder einer Tatsache, die recht oft von außerhalb des Marktes stammt. Das entspricht alles dem gesunden Menschenverstand. Auf diese Weise florieren die Finanzzeitungen: Sie verkaufen Nachrichten und gewichten die Bedeutung eines jeden „wegen“. Finanzfirmen machen eine ganze Industrie daraus. Sie beschäftigen tausende von Fundamentalanalysten.

Wenn man den Grund kennt, kann man das Ereignis vorhersagen und das Risiko steuern. Wenn es doch nur so einfach wäre. In der Wirklichkeit liegen die Gründe gewöhnlich im Dunkeln.  Entscheidende Informationen sind oft unbekannt. Der genaue Mechanismus, wie der Markt Nachrichten mit Kursen, Ursachen mit Wirkungen verknüpft, ist mysteriös und anscheinend uneinheitlich. Wie also kann man eine Anlagestrategie und ein Risikoprofil allein auf dem zweifelhaften Grundsatz aufbauen, man sei imstande, mehr zu wissen als alle anderen?

Als Reaktion darauf hat die Finanzindustrie andere Werkzeuge entwickelt. Nach der Fundamentalanalyse ist die technische Analyse die zweitälteste  Form der Untersuchung. Sie besteht in der Fähigkeit, Muster – seien es echte oder scheinbare – zu erkennen, indem man Stapel von Kursen, Handelsvolumina und Tabellen mit Indikatoren studiert und darin nach Hinweisen sucht, ob man kaufen oder verkaufen soll. In voller Schönheit gedeiht die Erkenntnis jedoch auf den Devisenmärkten. Hier beschäftigen alle Devisenhandelshäuser technische Analysten, welche unter den im Sekundentakt einlaufenden Daten des größten und schnellsten Marktes der Welt die „Punkte für Stützungskäufe“, die „Kursspannen“ und andere Muster herausfinden sollen. Und in der Logik der Märkte können die Chartisten zu gewissen Zeiten richtig liegen. Doch das ist der Bauernfängertrick: Jeder weiß, dass alle anderen die Punkte für Stützungskäufe ebenfalls kennen und so platzieren sie ihre Wetten entsprechend. Man mag es nicht glauben, dass auf der Basis einer solchen Finanzastrologie gewaltige Summen der Besitzer wechseln können. Bisweilen mag es funktionieren, aber es ist nicht die Art von Fundament, auf der ein Risikomanagement aufzubauen ist.

Und so kam das von den Wirtschaftshochschulen inzwischen als „modern“ bezeichnete Finanzwesen in die Welt. Es erwuchs aus der Mathematik des Zufalls und der Statistik. Der grundlegende Gedanke lautet: Kurse sind nicht vorhersagbar, ihre Fluktuation können jedoch durch die mathematischen Zufallsgesetze beschrieben werden. Deshalb ist ihr Risiko mess- und steuerbar. Die Arbeiten auf diesem Gebiet begannen 1900, als Louis Bachelier, ein junger französischer Mathematiker, die Kühnheit besaß, zu einer Zeit die Finanzmärkte zu studieren, als „echte“ Mathematiker sich mit dem Thema Geld nicht befaßten. Statt dessen brachte Bachelier die nächste große Welle auf dem Gebiet der Wahrscheinlichkeitstheorie ins Rollen, indem er sie erweiterte. Sein wichtigstes, häufig als „random walk“ bezeichnetes Modell postuliert, dass Kurse mit gleicher Wahrscheinlichkeit steigen oder fallen, mit der eine nicht manipulierte Münze Kopf oder Zahl zeigen kann. Die meisten Änderungen (68 Prozent) sind kleine Bewegungen nach oben oder unten innerhalb einer Standardabweichung vom Mittelwert, 95 Prozent sollten innerhalb von zwei, 98 Prozent innerhalb von drei Standardabweichungen liegen. Extrem wenige Änderungen schließlich – dies wird sich gleich als extrem erweisen – sind sehr groß. Die zahlreichen kleinen Änderungen ballen sich im Zentrum der Glocke, die seltenen großen an den Rändern. Für Mathematiker ist die Glockenform vertrautes Gelände; sie heißt sogar „Normalverteilung“, was einschließt, dass andere Formen „anormal“ sind.

Eine breitere Variante von Bacheliers Denken ist unter der Bezeichnung in Umlauf, die von Eugene F. Fama stammt: die Hypothese vom vollkommenen Markt. Ihr zufolge sind in einem idealen Markt an jedem Tag schon alle relevanten Informationen im Kurs eines Wertpapiers enthalten. So beeinflusst beispielsweise die Kursänderung von gestern nicht die von heute, die von heute nicht die von morgen – jede Änderung ist von der vorigen „unabhängig“. Mit solchen Theorien entwickelten die Wirtschaftswissenschaftler einen sehr umfangreichen Satz von Werkzeugen für die Marktanalyse. Damit werden „Varianz“ und „Beta“ verschiedener Wertpapiere gemessen und Anlageportfolios nach Risikowahrscheinlichkeit eingestuft. Nach der Theorie kann ein Fondsmanager ein „vollkommenes“ Portfolio zusammenstellen, das auf eine spezielle Rendite abzielt und ein gewünschtes Risikoniveau aufweist. Es ist das finanzielle Gegenstück zur Alchemie.

Die Theorie ist elegant, doch leider fehlerhaft, wie mittlerweile jeder sehen kann, der die Höhenflüge und Pleiten der neunziger Jahre erlebt hat. Die alte, konventionelle Finanzlehre gründete sich auf zwei kritische Annahmen in Bacheliers Modell: Kursänderungen sind statistisch unabhängig und sie folgen der Normalverteilung.

Erstens sind Kursänderungen nicht voneinander unabhängig. Wie die Forschung zeigt, die ich und dann auch andere in den letzten Jahrzehnten durchgeführt haben, besitzen viele Kursreihen des Finanzsektors eine Art von „Gedächtnis“. Das Heute beeinflusst tatsächlich das Morgen. Wenn Kurse wild nach oben oder unten ausschlagen, gibt es eine messbar größere Wahrscheinlichkeit, dass sie sich am folgenden Tag ebenso heftig bewegen werden. Es ist kein wohlerzogenes, vorhersagbares Muster von der Art, wie sie von Ökonomen bevorzugt wird.

Zweitens sind Kursänderungen im Gegensatz zur orthodoxen Lehrmeinung weit davon entfernt, sich an die Glockenkurve zu halten. Wenn das so wäre, könnte man jede beliebige Aufzeichnung von Marktpreisen durch einen Computer jagen, die Änderungen analysieren und zusehen, wie sie mit der „Normalverteilung“ zusammenfallen.

Von 1916 bis 2003 sind die täglichen Indexänderungen des Dow Jones nicht wie eine schlichte Glockenkurve auf dem Millimeterpapier verteilt. Die äußeren Enden lodern zu hoch auf: zu viele große Veränderungen. Nach der Theorie sollte der Dow sich innerhalb dieses Zeitraumes an 58 Tagen um mehr als 3,4 Prozent ändern, tatsächlich waren es 1001 Tage. Die Theorie sagt sechs Tage mit Indexsprüngen von über 4,5 Prozent voraus, tatsächlich waren es 366 Tage. Und Indexänderungen von mehr als 7 Prozent sollten nur einmal in 300.000 Jahren ereignen, während das 20. Jahrhundert in Wahrheit 48 solche Tage erlebte.
Wahrhaft eine katastrophale Ära, die darauf besteht, alle Vorhersagen an den Pranger zu stellen. Aber vielleicht sind ja unsere Annahmen falsch.

Quelle: Benoit B. Mandelbrot / Richard L. Hudson „Fraktale und Finanzen“

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Autor: Ronny Wagner

Ronny Wagner ist Finanz-Blogger, Geldcoach, Inhaber des Edelmetallhändlers Noble Metal Factory und Gründer der „Schule des Geldes e.V.“. Er widmet sich seit 2008 dem Thema „Finanzbildung“ und hält das für einen Teil der Allgemeinbildung. Dabei ist sein Ziel, Menschen in finanziellen Fragestellungen auszubilden, um dadurch ein Leben in Wohlstand zu erreichen.